Kunst und Welt
In Goethes Roman „Die Wahlverwandtschaften“ gibt es die wunderbare Stelle aus Ottiliens Tagebuch: „Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und man verknüpft sich nicht sicherer mit ihr als durch die Kunst.“ Diese Gedächtnisausstellung aus Anlass des 65. Geburtstags von Raimund Wäschle zeigt in herausragender Weise das Verknüpftsein seiner Kunst mit der Welt, waren doch die Kernthemen seines Schaffens während all der Jahre die extremen Ausprägungen menschlichen Seins und Schicksals.
Nachlass
Seit dem 14. März 2019, dem Tag seines Todes, ist das künstlerische Werk Raimund Wäschles ab-geschlossen. Es kommt definitiv nichts mehr hinzu. Für alle, die ihn kannten, ist das eine schmerzliche und einschneidende Erfahrung. Nun obliegt es der Nachlassverwaltung, das Hinterlassene zu sichten, zu ordnen, zu taxieren, zu bewahren, zu pflegen und einen Kernbestand zusammenzuhalten und so dem Vergessen zu entreißen. Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, Lust und Last, zumal kein Werkverzeichnis mit verlässlichen Daten vorliegt. In der Leutkircher Ausstellung im Gotischen Haus und im Kornhaus sind vor allem Werke aus dem Nachlass zu sehen, wobei die graphischen Blätter nach der zeitlichen Abfolge ihrer Entstehung geordnet sind, soweit das möglich war.
Gliederung der Kißlegger Ausstellung
In Kißlegg hingegen ist ein repräsentativer Querschnitt durch Wäschles Gesamtwerk zu sehen, der die ganze Bandbreite seiner künstlerischen Techniken vor Augen führt. Darunter sind ca. 60 Arbeiten auf Papier, ausgeführt in verschiedenen Radiertechniken (Kaltnadel, Chine collé, Vernis mou, Aquatinta, Carborundum), als Monotypien, flächige Kohlepastellzeichnungen, Strichzeichnungen und Pinselzeichnungen. Dazu ein gutes Dutzend großformatige Malereien auf Leinwand, Holz, Papier auf Leinwand, einige Bronzegüsse, Bronzereliefs und plastische Arbeiten in Terrakotta (mit Braunstein bemalt).
Wäschles Motivwelt
Malend und zeichnend war er existenziellen Fragen auf der Spur. Seine Kunst: ein Nachsinnen und Nachforschen mit Stift, Radiernadel und Pinsel über die Frage „Wer bin ich?“ und „Was ist der Mensch?“, vor allem der Mensch in extremen Erscheinungsformen abseits der Norm. Seine Bildthemen umkreisen Alleinsein und Entfremdung, Isolation und Eingeschlossensein ins Eigene, das Sich-nicht-mitteilen-können, Bedrohung aus dem Nichts (vgl. Kafka „Der Prozess“), Beklemmung, Leid und Leiden, das Ausweglose und das äußerliche Entstelltsein, das auch in der Seele tiefe Wunden schlägt. Das kommt vornehmlich in der Figuration zum Ausdruck: Die menschliche Figur zumeist gekrümmt, in sich gekehrt, vereinzelt, an Mumien oder Embryos erinnernd, in flächiger Darstellung ohne räumliche Perspektive, haltlos schwebend. Der Kopf als immer wiederkehrendes Motiv. Kopf und Gehirn als Sinnes-, Denk- , Steuerungs- und Nervenzentrum, als Sammelstelle von Empfindungen und Emotionen, als Erinnerungsspeicher und persönliches Archiv. Der Kopf als individuell-menschliches Kennzeichen schlechthin.
Gleichzeitig strahlen viele seiner Bilder aber auch große Ruhe aus, laden zum Innehalten und zur Kontemplation ein, zum empathischen Verweilen. Wäschles Figuren scheinen der Zeit enthoben. Sie sprechen vom Ephemeren: der Mensch im Hinübergang, im Aufleuchten und Verschwinden, im Noch-nicht und im Nicht-mehr. Auf dem schmalen Grat, der Leben heißt. Als Grenzgänger. Der Betrachter spürt die Kraft der Stille, die den Bildern eignet, ihren Sog, ihre verhaltene Energie und ahnt ihre geheimnisvollen Gründe und Abgründe. Er ist nicht nur angerührt, sondern empfindet eine lang anhaltende, nachhaltige Wirkung, auch wenn er vieles nicht zu deuten und mit Sicherheit zu lesen vermag.
Mein Weg mit Raimund Wäschle
In mehr als einem Vierteljahrhundert habe ich Wäschle mit kritischer Sympathie begleitet und dabei sein Schaffen und Werk immer umfassender kennengelernt. In gut zwei Dutzend Ausstellungen habe ich in all den Jahren unserer freundschaftlichen Verbundenheit eingeführt. Das reichte von Ravensburg bis Heidelberg, vom oberbayrischen Issing bis Weingarten, von Augsburg bis Isny, von Tettnang bis München, von Leutkirch bis Wangen. Darüber hinaus schrieb ich zahlreiche Texte für Faltblätter, Broschüren und Kataloge.
Wie kaum jemand sonst bekam ich bei zahlreichen Atelierbesuchen viele Bilder im Entstehen zu sehen. Wir sprachen dann über Lösungsansätze, Bildtechniken und technische Probleme, über Farben und Untergründe, zuweilen auch über seine Lieblingskollegen Günter Brus, Cy Twombly und Martin Kippenberger, über Literatur und gotische Kunst. Bei jedem Besuch gab es wie selbstverständlich neue Radierungen zu sehen. Da schien ein unerschöpflicher Quell zu sprudeln. Gemeinsam haben wir Ausstellungen und Sammlungen in Basel, Ulm, Stuttgart, Bonn, Albstadt, München und Augsburg besucht. Bis an den Niederrhein hat uns eine mehrtägige Kunstreise geführt, wo wir im Schloss Moyland die größte, legendäre Sammlung mit Werken von Joseph Beuys und in einigen Extra-Räumen Arbeiten von Wäschles Akademielehrer Rudolf Schoofs sahen. Von Schoofs war er wohl schon während des Studiums an der Stuttgarter Akademie mit Nachdruck zum Zeichnen und Radieren angehalten worden.
Radieren als Passion
Neben der Malerei hat sich Wäschle von seiner Studienzeit an mit Vehemenz dem Zeichnen und Radieren verschrieben. Wollten Künstler ehedem durch den Kupferstich und die Ätzradierung größere Auflagen erzielen, so schätzte er vor allem die besonderen Gestaltungsmöglichkeiten, die einzelne Radiertechniken boten, und den jeweils signifikanten Strich, der bei jeder Technik anders ausfällt. Ihm gelangen in diesen aufwändigen Tiefdruckverfahren großartige Einzelblätter und zahlreiche Serien. Virtuos handhabte er auch die Kombination verschiedener Verfahren zur Bildgewinnung auf einem Blatt. Dabei arbeitete er vorzugsweise in Serien, um so eine Thematik vielseitig auszuleuchten und umfassend auszuschöpfen. Davon zeugen Mappenwerke wie „Holocaust“, „Wolfgang Borchert“, „shunt“, „Moulage“, „Twins“, „via crucis“, „Kruzifixe“ (zu sehen im Ulrichspark Kißlegg im Zugang zur Hauskapelle). Manche dieser Serien umfassen bis zu 40 Einzelblätter.
Mal- und Zeichengründe
Wäschle verwendete Papiere mit unterschiedlichsten Eigenschaften als Mal-, Zeichen- und Druckgründe. Insgesamt sind mehr als 90% seiner Arbeiten auf Papier ausgeführt. Papier war für ihn Gestaltungsmittel und Bildfaktor. Zur Stabilisierung ließ er Papierarbeiten manchmal später auf Leinwand aufziehen. Dass Manches auf Papier weniger lange haltbar sein würde, kümmerte ihn wenig. Er liebte die Verformung des Papiers beim Bemalen, das unterschiedlich intensive Ansammeln dünnflüssiger Farben auf den Bögen beim Trocknen. Die vielen kleinen Zufallsergebnisse wusste er gekonnt in die Gesamtkomposition miteinzubeziehen. Seine Radierungen druckte er zumeist auf dem festen, widerstandsfähigen Zerkallbütten.
„Ich will mit meiner Kunst die Leute nicht unterhalten.“
So äußerte sich Wäschle immer wieder entschieden. – Es geht angesichts dessen, was wir in dieser opulenten Ausstellung rings um uns haben, nicht ums oberflächliche Gefallen, sondern um die Wahrhaftigkeit der Bilder. Die Frage heißt: „Bin ich durch diese Kunst angesprochen, angerührt, vielleicht sogar aufgewühlt und gepackt? Trifft und betrifft sie mich“ Oder wie der bekannte Museumsleiter Werner Schmalenbach es einmal formulierte: „Denn was will denn die Kunst? Sie wird doch nicht hergestellt, damit sie begriffen wird, sondern damit man in irgendeiner Weise von ihr ergriffen ist.“
Starke Kunst weckt Emotionen. Ihre Bildsprache lässt uns nicht kalt. Sie bringt vielmehr etwas in Bewegung in uns. Wir müssen nur den Mut und die Offenheit aufbringen, das zuzulassen.
Anmerkungen zu einigen exemplarischen Bildern
Nietzsche, Nr, 20, 21, 22
Um die dreißig Blätter umfasst die Serie „Nietzsche“ mit Zeichnungen, Gouachen und Monotypien. Wäschle ließ sich dazu vor allem von der Gips-Büste des Philosophen inspirieren, die Otto Dix wohl um 1914 geschaffen hatte und die als verschollen gilt. An Nietzsche faszinierte ihn das Rauschhafte, Dionysische, das für Aufbäumen und Schöpfungsdrang steht, aber auch für Zerstörung und Untergang. Der Wucht von Nietzsches Gedanken stellte Wäschle mit dieser Serie ein starkes bildhaftes Äquivalent entgegen.
Kruzifix nach Cimabue, Nr. 31
Cimabue, Lehrmeister von Giotto, war Maler und Mosaikkünstler, geb. 1240 in Florenz, gest. 1302 in Pisa. Er brach mit dem Formalismus der byzantinischen Tradition und gilt als einer der Väter der Renaissance. Seine Rezeption der gotischen Malerei aus Nordeuropa war von großem Einfluss auf die Malerei des 14. Jahrhunderts. Giorgio Vasari verfasste die erste Biographie des Malers. Er beschrieb ihn als stolz, hartnäckig, hochmotiviert und entschlossen, das zu tun, was er für richtig hielt. Wäschle ließ sich immer wieder anregen von den Meistern der Gotik und Renaissance, verwendete einzelne Bildzitate aus ihren Werken und band die Neuerungen von ehedem verwandelt in seine Kompositionen mit ein. Ein Beispiel dafür ist das 1966 im Hochwasser von Florenz schwer beschädigte, auf Holz gemalte Kruzifix von Cimabue. Die Darstellung der Christusfigur darauf gab der florentinische Maler erstmals in leichter Verwindung und geringer Abweichung von der Frontalansicht. Solche Neuerungsschritte spürte Wäschle auf und nahm sie in seine Bildsprache auf. Mit der Schwärze des Bildes und seiner vereinfachten Figuration kommt auch die Trauer über den Verlust eines großen Kunstwerks zum Ausdruck.
Heilung der Blutflüssigen, Nr. 32
Matth. 9,18-22; Mark. 5,25-34; Luk. 8,43-48: Der Herr Jesus war auf dem Weg zum Synagogenvorsteher Jairus, dessen Tochter im Sterben lag. Die Volksmenge umdrängte Ihn. Eine blutflüssige Frau berührte Ihn heimlich und wurde augenblicklich geheilt. Der Herr heilte nicht nur ihren Leib, sondern kümmerte sich auch um ihre Seele. Er half ihr, die Mauer der Menschenfurcht zu durchbrechen und zu innerem Frieden zu finden. – Die Frau litt zwölf Jahre unter Blutfluss. Nach dem Gesetz Moses war sie unrein und beständig vom Gottesdienst ausgeschlossen (3. Mo 15,31). Ihre sozialen Kontakte dürften sehr rar gewesen sein, da sie durch den Blutfluss alles in ihrer Umgebung verunreinigte (3. Mo 15,25–27). Niemand konnte ihr helfen. Sie hatte die Station „Hoffnungslosigkeit“ erreicht. Doch dann hört sie von Jesus und macht sich auf, Ihn zu sehen (Mk 5,27). Das Leiden der Frau symbolisiert Wäschle mit einem großen Kreuz, ihre Heilung durch das aufgebrachte Blattgold in der Mitte. Die scharfen, formkonturierenden Schnitte in den hölzernen Maluntergrund weisen auf die langjährigen Schmerzen und Qualen der Frau. Das Kreuz steht aber gleichermaßen auch für Jesus, dessen Blut fließen wird und der den Tod in Leben zu wandeln vermag.
Direktätzung, Nr. 40
In seinen letzten Schaffensjahren hat Raimund Wäschle den verschiedenen Radiertechniken noch ein weiteres Druckverfahren hinzugefügt, die Ätzung auf Aluminium-Offset-Druckplatten ohne die Aufbringung eines schützenden Firnis. Die leicht gefärbte Säure trug er mit dem Pinsel direkt auf die waagrecht liegende Platte auf und ließ die Säure einwirken. Der Druck von diesen flächig geätzten Platten gestaltete sich überaus schwierig.
o. T., Nr.76 und 77
Die beiden großformatigen Kohlepastellzeichnungen auf gelbem Papier stammen aus einer fünfteiligen Reihe, die Wäschle 1997 eigens für die Ausstellung im Neuen Schloss Kißlegg gefertigt hatte. Die Figuren schweben gleichsam im Bildraum, scheinen abgeschieden von der Welt, allem Lauten, allem geschäftigen Treiben enthoben und strahlen große Ruhe aus. Mit ihrer feinsinnigen Verhaltenheit sind sie starke Gegengewichte zu aller Hektik ringsum.
Kopf auf gelbem Grund, Nr. 74
Der Kopf als vielfältig im Werk auftauchendes Motiv ist hier in äußerster Verknappung und farblicher Askese gegeben. Nur schwarz auf gelbem Grund, so wird aus dem Kopf eine vieldeutige Metapher. Das Leben scheint aus dem Schädel zu rinnen und ins Nichts zu zerfließen, als ob der Mensch sich selbst abhanden komme. Allegorie für das Formwerden und Formvergehen, wie es die Natur fortwährend praktiziert und dem wir nicht entrinnen können.
Gekreuzigter, Nr. 73
Der Kreuzesstamm ist gar nicht dargestellt, lediglich der geschundene Körper des Schmerzensmannes. Seine Gliedmaßen werden in der Form des Kreuzes gezeigt. Durch diese Reduktion ohne jegliches Beiwerk lenkt Wäschle den Fokus mit voller Wucht einzig auf die ungeheure Tatsache: Menschen martern und töten Gottes Sohn. Sie schrecken vor nichts zurück. Das Bild: Fanal, Anklage, und stummer Protest.
o. T., Triptychon, Nr. 69
Eines der Schlüsselwerke in Wäschles Œuvre ist dieses dreiteilige Gemälde. Die ins Bild gebrachten Knochen geben das kompositorische Gerüst und zeigen gleichzeitig die Brüchigkeit dessen, was Halt geben sollte. Diese Ambivalenz bringt Spannung in die Bildanlage. Kontrapunktisch spielen Farben und Formen miteinander. Schon beim ersten Blick auf diese Malerei fällt die besondere Farbigkeit auf. Helle, fahle Gelbtöne scheinen zwischen grauen, blauen und violetten Passagen auf. Fast könnte man meinen, es handle sich um ein Glasbild. Wäschle verwendete keine Öl-, Tempera- oder Acrylfarben, sondern farbsatte Tuschen, womit er auf der Leinwand eine aquarellartige, luzide Wirkung erzielte.
Anton Schmid
Kißlegg, im September 2021




